
Die Geschichte des Anarchismus und Syndikalismus im deutschsprachigen Raum von den Anfängen bis in die Gegenwart ist mittlerweile in groben Zügen erforscht. Es gibt eine Reihe von Gesamt- und Überblicksdarstellungen über einzelne Epochen, Organisationen und Personen. Hinzu kommt eine wachsende Zahl von Regionalstudien.
Zum Beispiel liegt schon seit längerem eine Untersuchung zu Bayern vor, „Damit in Bayern Frühling werde!“ (Lich 2007), in der sich der Verfasser, Helge Döhring, allerdings explizit auf Südbayern beschränkt. Der Norden des Freistaates bleibt (vielleicht mit Ausnahme von Fürth) bislang noch weitgehend terra incognita. Dass aber gerade in der „Provinz“, in kleinen und mittelgroßen Städten, besonders in Industriestandorten mit großer Arbeiterbevölkerung, noch einiges zu entdecken ist, beweist eine aktuelle Publikation zu Schweinfurt. Genauer gesagt handelt es sich um die Biografie des Metallarbeiters Wilhelm Wehner (1885-1968), dessen Leben allerdings so eng mit seiner Geburtsstadt Schweinfurt verbunden war, dass sich seine persönliche Geschichte nicht ohne die der Schweinfurter Arbeiterbewegung erzählen lässt. Zumal der Autor, Norbert Lenhard, sich gelegentliche Abstecher in eine „Lokalgeschichte von unten“ erlaubt, in die sein Protagonist nicht direkt involviert war (z. B. den Schweinfurter Bierkrieg von 1910, S. 37 ff.).
Lenhards Buch ist weniger eine systematische Biographie mit wissenschaftlichem Anspruch, als eine lockere, nicht immer chronologisch verfahrende Chronik, die wichtige Episoden aus dem Leben Wehners Revue passieren lässt. Dieses Konzept lässt Raum für Gastbeiträge anderer Autoren, etwa kurze Exkurse zu Rudolf Rocker (von Helge Döhring, S. 77-80) oder Gustav Landauer (von Gisela Notz, S. 23-24) oder einen autobiografischer Bericht, wiederum von Gisela Notz, über ihren Großvater, den Schweinfurter Anarchosyndikalisten Rudolf Keinholz, der mit Wilhelm Wehner befreundet war). Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass Wehners Fotoarchiv die Zeiten überdauert hat, was der Gestaltung des Buches, mit seinen zahlreichen Abbildungen, zugute kommt.
Man kann Wehners Lebenslauf als durchaus typisch für den eines anarchistisch-syndikalistischen Aktivisten seiner Generation ansehen.
Bei fast allen (nur Gustav Landauer ist hier eine prominente Ausnahme) begann ihr politisches Engagement mit einer Mitgliedschaft in der SPD, der Wehner 1902, also noch als Jugendlicher beitrat. Spätestens ab 1905 versteht er sich als Anarchist. Während seiner „Wanderjahre“ (1905-1913), die ihn durch verschiedene deutsche Städte führten, trat er 1906 der „Anarchistischen Föderation Berlin“ bei und gehörte 1907 1908 zur Redaktion der Zeitschrift „Der Revolutionär“, wobei ihm die Aufgabe zufiel – mit der man in der Regel junge und unverheiratete Genossen betraute – als „verantwortlicher Redakteur“ die fälligen Gefängnisstrafen für Meinungsdelikte abzusitzen. Nicht weniger typisch ist die frühe Verbindung eines politisch-gewerkschaftlichen mit einem kulturell-lebensreformerischen Engagement, das sich in der doppelten Mitgliedschaft in der frühsyndikalistischen „Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften“ und in Gustav Landauers „Sozialistischem Bund“ niederschlug.
Persönlichkeiten wie Wilhelm Wehner bildeten schließlich das organisatorische Rückgrat der FAUD in den Jahren der Weimarer Republik. Diese Schicht von Aktivisten (Leute wie Willi Paul in Kassel], Fritz Oerter in Fürth, Willi Schroers in Delmenhorst, Heinrich Reuß in Mülheim/Ruhr, usw.) dürfte wesentlich mitverantwortlich dafür gewesen sein, dass die FAUD gerade in kleineren Orten ohne traditionell starke anarchistische Verankerung auch nach dem Ende der Revolutionsbewegung (spätestens ab 1923) sich auf wenn auch niedrigem Niveau stabilisieren konnte und als sichtbarer Teil der lokalen Arbeiterbewegung, wenn nicht der Stadtgesellschaft schlechthin, präsent blieb. Das war zweifellos, im Falle Wehners, seinem persönlichen „Standing“ geschuldet, resultierend aus seinem langjährigen, bis in die Kaiserzeit zurückreichenden politisch-gewerkschaftlichen Engagement und seiner teilweise führenden Beteiligung an strömungsübergreifenden Kulturorganisationen der Arbeiterbewegung (Freidenker, Naturfreunde, Sexualreformer).
Die interessantesten und dichtesten Kapitel des Buches sind nicht zufällig diejenigen über die Kriegs- und Revolutionsjahre. Geradezu tollkühn erscheint sein Umgang mit seiner ablehnenden Haltung zum Krieg. Als er im Juli 1916 zum Kriegsdienst eingezogen werden sollte, weigert er sich mit der Begründung, er wolle sich nicht zum „Menschenmörder“ ausbilden lassen. Er wurde wegen unerlaubter Entfernung und Ungehorsam zu einer vergleichsweise milden Gefängnisstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Allerdings zeigte er sich nach der Verbüßung seiner Strafe im Februar 1918 weiterhin „uneinsichtig“ und wurde erneut verurteilt. So blieb er bis zum Ende des Krieges in Haft und wurde schließlich von der Revolution „gewaltsam“ befreit (S. 43 -45).
Wehner wurde in den Schweinfurter Arbeiter- und Soldatenrat gewählt und rief in dieser Eigenschaft, als Vertreter der kommunistischen Partei, am 7. April 1919 die Räterepublik aus. Die Rede, die er aus diesem Anlass hielt, wurde später von ihm selbst aus dem Gedächtnis rekonstruiert und hat sich in seinem Nachlass erhalten (auf denSeiten 57-60 wiedergegeben). Dass Wehner, zumindest vorübergehend, als Sprecher der KPD agierte, mag aus heutiger Sicht merkwürdig erscheinen und wird von Lenhard auch nicht näher kommentiert. Ausschlaggebend dafür dürfte die Tatsache gewesen sein, dass die KPD in den Monaten nach ihrer Gründung (zum Jahreswechsel 1918/19) einen strikt antiparlamentarischen und anti-zentralgewerkschaftlichen Kurs verfolgte, sodass ein Zusammengehen von Anarchisten und Kommunisten (von Erich Mühsam theoretisch formuliert) möglich erschien. Diese Phase endete aber bald mit dem Ausschluss der „Linksradikalen“ aus der Partei (August 1919).
Das sozialistische Programm, das Wehner in seiner Rede vom 7. April 1919 skizzierte, blieb Wunschdenken. Die Zeit der Räterepublik in Schweinfurt endete, angesichts des militärischen Kräfteverhältnisses (die Stadt war von Truppen umstellt), schon nach wenigen Tagen (11. April). Die Stadt wurde am 29. April besetzt, Wehner am 5. Mai festgenommen und im Juni wegen Hochverrats vor ein Standgericht gestellt (S. 54), allerdings am 29. Juni überraschend freigesprochen.
1920 gehörte Wehner zu einer fünfköpfigen, von der Belegschaft der Kugellagerfabrik Fichtel & Sachs gewählten Delegation, die gegen die neu eingeführte staatliche Lohnsteuer protestierte. Diese wurde per Lohnabzug seitens des Arbeitgebers erhoben. In einem Strafverfahren wegen Erpressung wurde er wiederum freigesprochen (S. 84-86). Die Aktion ging offensichtlich von der FAUD-Betriebsgruppe aus (S. 88).
Die Syndikalisten beteiligten sich auch am großen Streik in der Schweinfurter Kugellagerindustrie vom Oktober bis Dezember 1920, obwohl sie die Lage von vorneherein für aussichtslos erkannten. Tatsächlich endete der Streik mit einer bitteren Niederlage und einer Verschiebung des lokalen Kräfteverhältnisses zugunsten des Kapitals (S.89-95).
Leider sind die Informationen zum Schweinfurter Ortsverein der FAUD in den nachrevolutionären Jahren der Weimarer Republik eher spärlich. Hier wirkt sich wahrscheinlich die Tatsache aus, dass 1933 viele Dokumente vernichtet wurden, um sie dem Zugriff der Nazis zu entziehen, womit sie – unvermeidlicherweise – auch für die Nachwelt verloren sind.
Über die „Föderation der Metall- und Industriearbeiter“, offenbar das organisatorische Zentrum der Schweinfurter FAUD, erfahren wir, abgesehen von einigen Personalien, nicht mehr, als dass sie Mitte der 1920er Jahre ihren höchsten Mitgliederstand erreichte, ohne dass konkrete Zahlen genannt würden. Lediglich erwähnt wird die Existenz einer Ortsgruppe des „Syndikalistischen Frauenbundes“, in Verbindung mit dem eher kuriosen Faktum, dass sie auf einer Reichskonferenz von Wilhelm Wehner repräsentiert wurde (S. 65). Daneben gab es ab Sommer 1923 eine Gruppe der „Anarchosyndikalistischen Jugend“, die zumindest bis 1925 existierte.
Belegt ist ferner eine kontinuierliche propagandistische Tätigkeit in Form von Diskussions- und Vortragsveranstaltungen, die anfangs vierzehntägig, später wahrscheinlich eher sporadisch durchgeführt wurden. Noch von April 1932 ist ein Brief von Emma Goldmann überliefert, in dem sie auf eine Veranstaltung in Schweinfurt Bezug nimmt (S. 81-82).
Um einem Verbot oder einer Beschlagnahmung von Dokumenten oder Vermögenswerten zuvorzukommen, löste sich die Schweinfurter FAUD im April 1933 selbst auf. Das konnte zwar nicht verhindern, dass Wehner am 5. Mai 1933 verhaftet und ins Bezirksgefängnis überführt wurde, hat ihm aber möglicherweise davor bewahrt, in ein Konzentrationslager deportiert zu werden, was bei seiner Vorgeschichte durchaus erwartbar gewesen wäre. Stattdessen wurde er am 30. September 1933 entlassen. Das scheint mir im Übrigen eine Konstante seines Lebens zu sein, dass er bei aller Repression, die er durch sein Engagement auf sich zog, immer vergleichsweise glimpflich davonkam. Letztlich überlebte er zwei Weltkriege und drei Regime.
Bemerkenswert an Wehner ist, dass er mehr als ein halbes Jahrhundert anarchistischer Geschichte in Deutschland verkörperte und, als einer der ganz wenigen, an allen größeren überregionalen anarchistischen Zusammenschlüssen, vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik, beteiligt war.
So engagierte er sich, trotz seiner äußerst prekären Lebensverhältnisse (er war 1943 ausgebombt worden), bereits kurz nach Kriegsende wieder in der „Föderation freiheitlicher Sozialisten“ (FFS), eine Art Sammelbecken der überlebenden bzw. nicht-emigrierten Anarchisten und Syndikalisten der Weimarer Republik. Es gelang ihm jedoch nicht, in Schweinfurt eine Ortsgruppe aufzubauen, er wirkte, als Einzelmitglied, im bescheidenen Rahmen als Verteiler der FFS-Zeitung „Die freie Gesellschaft“ und konnte nicht verhindern, dass die Aktivitäten der FFS bis zu ihrem Verschwinden 1960 mehr und mehr zum Erliegen kamen (S. 108-111).
Michael Halfbrodt (Bielefeld)
Norbert Lenhard, Wilhelm Wehner – Anarchist, Syndikalist, Antimilitarist , Freigeist und Naturfreund, Verlag Rudolph Druck, Schweinfurt 2025, ISBN 978-3 -911812-01-6, 140 S., 16 Euro.
